J. Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens

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Titel
Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens


Autor(en)
Grethlein, Jonas
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Penelope Kolovou, Institut für Klassische und Romanische Philologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„Der Homer möchte in manchen Augenblicken [...] farblos und unnaiv erscheinen“ – so Hugo von Hofmannsthal.1 Jedenfalls liest sich die Odyssee auch trotz des bereits seit Jahrtausenden vorhersagbaren happy end heute noch spannend und bietet jedem Interpreten immer noch die Gelegenheit, neue Lektüreansätze vorzustellen beziehungsweise die alten neu zu erhellen. Jonas Grethlein ist es mit diesem Buch gelungen, vor allem die wissbegierige Leserschaft (jedoch gegebenenfalls mit gewissen Vorkenntnissen), methodisch in die Formen und Funktionen der Erzählkunst Homers einzuführen und ihr somit die facettenreiche Welt der Odyssee zu offenbaren, „ohne dem homerischen Epos seine Fremdheit zu nehmen“ (S. 14).

In der Einleitung (S. 8–39) macht Grethlein die breite Nachwirkung der homerischen Odyssee deutlich, indem er ein weltweites Netz von modernen Adaptionen des odysseischen Mythos exemplarisch ausbreitet. So führt Grethlein den Leser dahin, die Odyssee als „intellektuelle Herausforderung und ästhetisches Vergnügen zugleich“ (S. 14) betrachten zu wollen. Der Autor setzt nichts voraus und spart auch im Verlaufe des Buches nicht damit, selbst das, was für Fachleute basics wären, zu erläutern, etwa die Entstehung und Entwicklung der sogenannten homerischen Frage in Anlehnung an die Konventionen der mündlichen Dichtung (S. 22–27), die künstliche homerische Sprache (Formelsprache und typische Szenen; Homers Sprache und Stil, S. 27–35), sowie die Skizzierung der Struktur und des Inhalts der Odyssee (S. 15–22). Der Fokus liegt jedenfalls auf den Elementen, die zum strukturalistischen Instrumentarium des Erzählers gehören, das eine kohärente Lektüre der Odyssee möglich macht. Denn Grethlein hat vor, die Odyssee in der Folge als Makrostruktur zu lesen, indem er das Hauptaugenmerk auf die „Sequentialität“ der Erzählung, die „zeitliche Dynamik“ oder den „Zeitfluss“ des Leseprozesses setzt, was den Erfahrungscharakter des Handlungsverlaufs auszeichnet. Darüber hinaus argumentiert Grethlein in seinem Buch, wie Menschen immer wieder durch Narration ihre Identität bestimmen, sich mit der Zeit auseinandersetzen, Gesellschaften zusammenschweißen oder in Frage stellen.2 In diesem Sinne lässt sich Grethleins Vorhaben zusammenfassen als „Erfahrung und Erzählung im Epos“, welches des Weiteren eine reflexive Erzählung über das Erzählen sei (S. 36–39).

Im zweiten Kapitel (Die Telemachie: Erzählungen vom Vater, S. 41–85) diskutiert Grethlein die „erzählerische Auseinandersetzung mit der Erzählung“ anhand der „Telemachie“ (Od. 1–4), einem Bestandteil der Odyssee, in dem Telemach verschiedenen Erzählungen über seinen Vater zuhört. Wenn auch das glückliche Ende der Odyssee immer wieder vorweggenommen wird, entstehe gerade dadurch eine sowohl für die antike als auch für die gegenwärtige Unterhaltungsliteratur „besondere Form der Spannung“, die dazu anregt, über das wie der Erzählung, nämlich über die Handlung, nachzudenken. Indem der Leser sich mit dem suchenden Telemach identifizieren soll, rückt er selbst ins Zentrum des Geschehens. Von Erkenntnissen aus der Phänomenologie und den Kognitionswissenschaften angeregt erklärt Grethlein am Beispiel der Reaktion der Penelope auf den Gesang des Rhapsoden Phemios (S. 53–59) die Relevanz von Balance zwischen Identifikation und Entfremdung bei der Erfahrung von Erzählungen als einer Spannung-generierenden Leseerfahrung mit intellektueller, emotionaler und körperlicher Resonanz. Die Funktion von Erzählungen als pharmakon (Heilmittel und Zauberei zugleich) wird im nächsten Kapitel ausführlicher vorgestellt. Wenn auch die Telemachie nicht als Wegbereiter des modernen Bildungsromans gilt (S. 71–85), stelle sie kein defizitäres Menschenbild als Typus vor (vgl. 5. Kap.). In Anlehnung an Theorien des antiken und des modernen Romans, welche angemessen erwähnt werden, erklärt Grethlein, inwieweit die Telemachie das Verhältnis zwischen antiker Erzählung und Persönlichkeit kritisch hinterfragt.

Im nächsten Kapitel (Vom Zuhörer zum Erzähler: Odysseus bei den Phaiaken, S. 87–119) weist Grethlein am Beispiel der drei unterschiedlichen Gesänge des Rhapsoden Demodokos auf die Heilkraft der Erzählung hin, während Odysseus in der „Phaiakis“ (Od. 5–12) sich an seinen eigenen Leiden „ergötzt“ (cf. Od. 15.400–401), zuerst als Hörer, dann als Erzähler. Von einem kognitiven Standpunkt aus betrachtet geben Erzählungen dem Zuhörer die Möglichkeit, das Erzählte des eigenen Leids aus einer gewissen Distanz wieder zu erfahren und somit eine Art katharsis zu erleben, indem das vorherige Wissen um das Ende eine Art von Sicherheit schenkt. Die Wiedergabe der Abenteuer von Odysseus selbst, argumentiert der Autor, bilde daher programmatisch einen Teil der Handlung als eine Methode, die eigenen Traumata durch das Erzählen zu bewältigen, denn wir können „Wirklichkeit verarbeiten, indem wir sie erzählen“ (S. 112). Wie es sich in der Heimkehrliteratur zeigt, formt die narrative Auseinandersetzung mit Erfahrungen im Endeffekt die Identität des Zuhörers/Erzählers und somit zeigen uns die sogenannten Apologen (Od. 9–12) „einen wichtigen Grund, warum Menschen ihre eigene Geschichte erzählen“.3 Mit Blick auf die Erzählkunst in den Apologen wird die Spannung stets auf das wie transponiert und zwar gerade durch in die Erzählung eingebettete Vorwegnahmen, Prophezeiungen, Voraussagen.

Im vierten Kapitel (Polyphem: Erzählung, Kunst und Geschichte, S. 121–158) thematisiert Grethlein am Einzelbeispiel des Polyphemabenteuers den historischen Hintergrund der Apologen (S. 121–141) und die Wirkungsgeschichte der Blendung des Kyklopen als Motiv in der antiken Bildmalerei (S. 141–158). Ein Märchenmotiv wird zur reflektierenden Impression der historischen Erfahrungen der frühgriechischen Kolonisation als Siedlungserfahrung und Erfahrung des Anderen der griechischen Zivilisation und der gesetzlichen Polis, „zwischen Natur, Zivilisation und Goldenem Zeitalter“ (S. 127–130). Das Kapitel endet mit der Diskussion über die erzählerische Reflexivität des Polyphemmotivs, mit Fokus auf der Funktion des Blickes (zum Beispiel auf der sogenannten Eleusis-Amphora).

Das fünfte Kapitel (Rückkehr, Wiedererkennung und Erzählung, S. 159–203) führt in den zweiten Teil der Odyssee ein (S. 159–163) und argumentiert für die Bedeutung von Erzählungen als Medium der Identität zur Wiedererkennung des Odysseus. Als Bestandteil des Kapitels skizziert Grethlein auch die Interpretationsmöglichkeiten der spannenden Frage, ob und wann genau Penelope den Odysseus wiedererkennt, ehe sie den Bogenkampf ankündigt. Im Hinblick auf die Poetik der Spannung in der Epik zieht er konkret einen Vergleich zu unserem Erwartungshorizont bei der Lektüre eines modernen Romans, um zu zeigen, dass „im Vordergrund der homerischen Erzählung [...] eine packende Darstellung der Handlung, nicht die subtile Ausleuchtung von Innenwelten“ stehe (vgl. 2. Kap.). Obwohl der nostos in einer visuellen Sprache erzählt wird, lässt sich der Sehsinn bei Realisierung der Heimkehr nur ungenügend aufzeigen. Auf den Seiten 171–179 geht es um das „aggressive Potential“ des Blickes als Zeichen von Konfrontation, Aggression und Angriff, wie es sich an allen neun Belegen der Wendung hupódra idón („von unten herauf blickend“) beim Polyphemabenteuer, in der Episode um Skylla und Charybdis und der Mnesterophonie nachweisen lässt. Somit beschreibt der Autor die Wandlung des Odysseus vom passiven Erdulder auf Irrfahrt, zum Aggressor auf Ithaka. Die „Lügengeschichten“ (S. 190–203) des Odysseus (etwa an Athene, Eumaios, Antinoos, Eurykleia, Penelope, Laertes) werden gelesen als selbst geformte, „dem Wahren ähnliche“ Geschichten, in welchen Fakt und Erfindung miteinander vermengt werden, damit Odysseus durch diese Schemata seine Erfahrungen verarbeiten kann. Sie gelten dann als Sprechakte, die den jeweiligen Zuhörer bewegen und dementsprechend die Identität von Odysseus schildern.

Im sechsten Kapitel (Ethik und Erzählung, S. 205–242) wird die Gerechtigkeit des Odysseus mit Bezug auf das Schicksal der Gefährten und der Freier sowie die gegebenenfalls willkürliche Gerechtigkeit der Götter thematisiert. Bereits im Proöm führt Homer die Ethik als einen wichtigen Aspekt in der Welt seiner Epik ein, jedoch scheint er im Laufe der Erzählung eher „philodysseus“ zu sein. So wird bei der Erwähnung der Freveltaten der Gefährten und deren Bestrafung Odysseus zwar von jeglicher Schuld freigesprochen, doch geschieht dies eher im Sinne eines „Exkulpationsversuchs“.

Der Schluss der Odyssee ist durch eine erneute Darstellung von Volks- und Götterversammlungen spiegelbildlich zum Anfang komponiert, wenngleich der Ausgang der Erzählung offenbleibt, was dem epischen Genre durchaus angemessen ist. Nichtsdestoweniger gewährt auch die Odyssee dem Leser die Befriedigung, ein glattes Ende zu haben, wenn auch nur vorläufig (S. 253–259), und bietet eine in die Handlung integrierte „Antizipation des Rückblicks“ über das letzte Drittel der Erzählung an. Der Autor erklärt im siebten Kapitel (Das Ende erzählen, S. 243–269), warum der 24. Gesang doch Bestandteil der Odyssee ist, und thematisiert den viel diskutierten Vers Od. 23.296 als einen Höhepunkt im Sinne eines möglichen telos; die Deutung dieses Verses ist nämlich eng verknüpft mit der Frage, „wie man die Odyssee liest: als die Erzählung einer Rache, als die Geschichte eines Paares oder als die Rückkehr des Herrschers.“

Nachdem Grethlein verschiedene Mittel, Formen und Funktionen des Erzählens in der Odyssee beschrieben hat, fasst er in einem Epilog (Reflexivität und Erfahrung, S. 271–282) seine Thesen zusammen; darin betont er, dass die Erzählung als Erfahrung von der Kunst des Erzählenden und der Rezeption abhängt, wobei auf angemessene Weise ästhetische Distanz gewahrt bleiben soll. Das Buch endet wiederum mit einem zweiten Blick auf das mannigfaltige Nachleben der Odyssee, mit der Besprechung der Odysseus-Figur als des „Dulders“, „Überlebenden“ und „Ur-Erzählers“ im einflussreichen autobiographischen Roman Ist das ein Mensch? des Shoah-Überlebenden Primo Levi (1919–1987): „so wird der Odysseus, der von seinen Erlebnissen berichtet, ein Spiegel für den schreibenden Levi. Ebenso wie dieser erzählt er, um seine traumatischen Erfahrungen zu bewältigen“ (S. 276). Am Beispiel von Levi thematisiert Grethlein die Rezeption der Odyssee durch Übersetzungen und skizziert schließlich den Stand der Forschung in der Literaturkritik, mit Betonung des Aufstiegs von Konzepten der Präsenz, Erfahrung und Materialität. Das Buch endet mit dem Fazit, dass das Erzählen als „Überlebensstrategie“ zum Gegenstand der Odyssee werde.

In lockerem Erzählton und verständlicher Sprache arbeitet sich der Autor an konkreten Beispielen durch das Epos. Ausführliche Nacherzählungen, exemplarische Exkurse, eventuelle Wiederholungen sowie Zusammenfassungen der wichtigsten Punkte am Ende jeder Einheit funktionieren konstruktiv, indem sie die Lesenden dabei unterstützen, dem roten Faden zu folgen. Neben einer gut lesbaren Einführung in die homerische Odyssee bietet das Buch ein Potpourri von möglichen Ausgangspunkten und lebendigen Praxisbeispielen für die Lektüre eines Werkes anhand aktueller Theorien der Narratologie. Die Odyssee als Erzählung über das Erzählen bildet zwar eher einen topos in post-strukturalistischen Lektüren, aber die Faszination des Epos liegt doch gerade in der Hinterfragung seiner eigenen Poetik.

Anmerkungen:
1 Hugo von Hofmannsthal (Einleitung), Erzählungen aus den Tausendein Nächten. Nach dem arabischen Urtext übertragen von Enno Littmann, Insel-Verlag, Wiesbaden 1954, S. 8.
2 In diesem Zusammenhang wäre eine Auseinandersetzung mit Brian Boyd, On the Origins of Stories: Evolution, Cognition, and Fiction, Cambridge 2009 wünschenswert.
3 Zum Thema siehe auch Jonathan Slay, Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character, Scribner, New York 1994, und ders. Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming, Scribner, New York 2002.

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